Kunden und Betriebe kämpfen zusammen für eine regionalere Welt
Regionale Produkte sind in vielen Aspekten die bessere Alternative zu den weit gereisten und auf Masse produzierten Lebensmitteln. Obwohl sich viele Kunden über diese Aussage einig sind, greifen zu wenige von ihnen zu den regionalen Angeboten und Produzenten haben so oft Schwierigkeiten, auf dem Markt zu überleben. Die Regionalwert AG Hamburg möchte dies ändern und hat ein Konzept entwickelt, bei dem Kunden als eine Art Aktionäre für regionale Betriebe interagieren. Wir haben mit Ulf Schönheim aus dem Vorstand gesprochen.
Hallo lieber Ulf, schön, dass du dir die Zeit für das Interview nimmst!
Stellt euch und euer Unternehmen doch gern erstmal vor.
Wir sind eine nicht börsennotierte Aktiengesellschaft, die mittlerweile von rund 1.200 Bürgerinnen und Bürgern der Region getragen wird. Unser Ziel: die Agrarwende selber machen, und zwar direkt bei uns vor der Haustür. Das heißt bei uns: Schleswig-Holstein, Hamburg, das nördliche Niedersachsen und das westliche Mecklenburg.
Dafür geben wir regelmäßig neue Aktien an die Bürgerinnen und Bürger aus. Die Mittel investieren wir als Eigenkapital in Bauernhöfe, Lebensmittelhandwerker, Lebensmittelhändler und Gastronomiebetriebe. Die Betriebe werden dadurch finanziell gestärkt. Weitere Betriebe, die derzeit keinen Kapitalbedarf haben, können sich über einen Lizenzvertrag unserem Netzwerk anschließen – und werden so ebenfalls zu Partnerbetrieben.
Alle unsere Partnerbetriebe – egal, ob Investitions- oder Lizenzpartner – verpflichten sich auf ökologische und soziale Kriterien, die einmal jährlich abgefragt werden. Und darauf, eng zusammenarbeiten und sich untereinander möglichst viele Erzeugnisse abzunehmen.
Die Aktionärinnen und Aktionäre wiederum kennen ihre Betriebe. Und je mehr sie bei ihnen einkaufen, desto besser funktioniert der Verbund. So entsteht ein regionaler Verbund auf ökologischer, sozialer und regionalökonomischer Basis.
Wie seid ihr auf die Problematik aufmerksam geworden, die ihr mit der Regionalwert AG Hamburg lösen wollt?
Kleine, nachhaltig arbeitende Betriebe haben es in der Land- und Lebensmittelwirtschaft sehr schwer. Betriebsneugründungen, wie zum Beispiel außerfamiliäre Hofübernahmen, werden von Banken kaum finanziert. Außerdem arbeitet die konventionelle Lebensmittelbranche extrem unfair: Es herrscht ein sehr starker Druck, Kosten zu externalisieren, also an die Umwelt und die Gesellschaft weiterzugeben. Das kann so nicht länger funktionieren.
Dazu kamen persönliche Beweeggründe und Interessen. Ich koche sehr gern und wollte eine Zukunft für kleine Erzeuger, die gute, handwerkliche Produkte herstellen. Mein Kollege Malte Bombien ist Agraringenieur und wollte immer aktiver Landwirt werden – und das ohne Hof in der Familie. Wir beide hatten Ende 2012 aus unterschiedlichen Quellen von der Regionalwert-Idee gehört – und sind dann Mitglied der Gruppe geworden, die 2014 die Regionalwert AG Hamburg gegründet hat.
Wie würdet ihr euer Konzept jemandem erklären, der noch nie von euch gehört hat?
Wir zeigen ihm einfach einen der Fernsehbeiträge über uns – oder, wenn es schnell gehen soll, unseren dreiminütigen Erklärfilm.
Habt ihr schon mit der Startup-Szene Kontakt und wenn ja, mit welchen Startups?
Hm, was genau bezeichnet ihr als Startup-Szene? In unserem Netzwerk sind einige Startups und junge Unternehmen vertreten, etwa Waldhof Zydek, Carstens Highlands, Lammeslust, Hof Wurzelreich, Wildwuchs Brauwerk, Tofte-Eis, die Hobenköök oder Monger. Eine eng vernetzte „Szene“ wie im IT-Bereich nehme ich in der Landwirtschafts- und Lebensmittelbranche unserer Region allerdings nicht unbedingt wahr. Eine identifizierbare Szene gibt es am ehesten vielleicht in der lebensmittelverarbeitenden Branche in Hamburg, aber in der Landwirtschaft nicht so richtig.
Welches Feedback habt ihr bis jetzt von den Konsumenten, Bauern etc. erhalten?
Fast ausschließlich positives! Die mittlerweile 1.200 Aktionärinnen und Aktionäre und rund 50 Partnerbetriebe zeigen das deutlich. Viele Menschen und Firmen sehen, dass wir etwas tun müssen, um die derzeitigen Verhältnisse zu ändern.
Das geht am besten gemeinsam – und nicht nur an einer Schraube wie etwa dem Landbesitz oder der Vermarktung von Lebensmitteln, sondern ganzheitlich. Wir sagen: vom Acker bis zum Teller, von den Bürgerinnen und Bürgern über Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung zu Handel und Gastronomie – und zurück.
Gibt es bereits ähnliche Projekte in Europa, und was unterscheidet euch von diesen?
Die Regionalwert-Idee ist in ihrer Tiefe und Verbreitung meines Wissens einzigartig in Europa. In Deutschland gibt es mittlerweile fünf aktive Regionalwert-AGs, die selbständig in ihrer jeweiligen Region aktiv sind – und natürlich Wissen und Know-how austauschen. In weiteren Regionen gibt es Gründungsgruppen.
Mittelfristig soll es in Deutschland in jeder Region eine eigene Regionalwert-AG geben. Und auch aus Nachbarländern gibt es bereits Interesse an dem Konzept.
Auf eurer Webseite sprecht ihr von „enkeltauglich“. Wie sieht denn eine enkeltaugliche Welt aus eurer Sicht aus?
Eine enkeltaugliche Welt im Regionalwert-Sinn ist eine Welt, in der keine Kosten irgendjemandem woanders oder wannanders angelastet werden – wie etwa kürzlich ganzen Landkreisen durch die Firma Tönnies. Sondern in der insbesondere Lebensmittel ihren „wahren Preis“ haben, also mit möglichst vielen ökologischen, sozialen und regionalökonomischen Faktoren.
Im Idealfall gilt das nicht nur für Lebensmittel, sondern für alle Produkte und Unternehmen. Unsere Schwester-AG in Freiburg arbeitet daran, diese Faktoren in die Buchhaltung von Betrieben zu integrieren. Wenn so etwas verpflichtend wird, wäre aus unserer Sicht sehr viel gewonnen. Oder anders
„Enkeltauglichkeit“ ist übrigens auch eine politische Aufgabe: Die Politik muss dringend bessere Rahmenbedingungen und Regeln dafür setzen, dass unser Wirtschaftssystem auch in 30, 40 oder 50 Jahren noch funktionieren kann. Dazu gehört zum Beispiel auch, die Belastungen gerecht zu verteilen, die sich aus der Internalisierung von Kosten ergeben.
Wie stellt ihr sicher, dass allen Parteien mit diesem Prinzip nachhaltig geholfen wird?
Unsere Partnerbetriebe treffen sich regelmäßig und besprechen, wer was braucht und wer was anbietet. Daraus ergeben sich dann verschiedene Kooperationen. Zum Beispiel werden Futterknappheiten in trockenen Jahren überbrückt, Abfälle vermieden – etwa dass Brautreber von Wildwuchs als Rinderfutter dient, und natürlich für Transparenz und Dialog gesorgt.
Worauf seid ihr auf dem Weg mit der Regionalwert AG Hamburg besonders stolz und welche Hürden musstet ihr überwinden?
Die größte Hürde war, bei Gründung und bei den ersten Aktienausgaben ausreichend Menschen für die Idee zu begeistern. Wir hatten ja noch nichts! Dementsprechend sind wir sehr stolz darauf, dass es uns in den letzten Jahren gelungen ist, mehrere Aktienausgaben durchzuführen und ein Netzwerk aufzubauen. Mittlerweile ist unser Netzwerk so dicht, dass wir Lücken identifizieren und gezielt bearbeiten können.
Und stolz sind wir auch darauf, dass sich das Regionalwert-Netzwerk in der Corona-Krise wirklich bewährt hat. Während andere Betriebe noch gejammert haben, haben unsere Partner die Ärmel hochgekrempelt und mit den Möglichkeiten des Netzwerks ihre Geschäfte stabilisiert.
Was sind eure Ziele und Wünsche für die Zukunft?
Dass unser Netzwerk und unsere Basis weiter wachsen und zusammenwachsen. Dass wir noch engere Maschen bei der Vermarktung der Lebensmittel knüpfen können, um die häufigste Frage unserer Aktionärinnen und Aktionäre beantworten zu können: Wo können wir die Produkte der Partner kaufen? Und dass die Politik endlich damit anfängt, die Regeln so umzubauen, dass eine enkeltaugliche Wirtschaft möglich ist. Insbesondere in der Land- und Lebensmittelwirtschaft.
Vielen Dank für das Interview!
Beitragsbild: Regionalwert AG Hamburg